Über Blätter im Wind

Gespräche mit Luna

 

Da war sie. Luna.

Klein und rund.

 

"Hallo," sagte sie, "jemand da?"

"Ja. Ich." sagte ich.

 

"Wer bist du?"

"Deine Mama."

"Aha."

 

Neunmalkluges Ding.

 

"Was ist eine Mama?" fragt Luna.

"Oh Kind," sage ich, "du fängst aber früh an Fragen zu stellen, aber nachdem du gefragt hast, muss ich wohl antworten,"

 

Ich lächele Luna an und ringe um die Erklärung.

"Ein Mama ist ... der Garten in dem du wächst. Wenn du reif bist darfst du raus."

"Oh," sagt Luna. "Raus?"

"Ja."

"Was gibt es da draußen?"

 

Verdammt neugieriges Kind.

 

"Da draußen findest du andere Menschen."

"Aha," sagt Luna. "Es gibt noch mehr außer uns beiden?"

"Ja. Viele."

"Auch einen Papa?"

 

Mist. Woher weiß die kleine Kröte das? Ich muss schon wieder lächeln.

 

"Ja, auch einen Papa."

"Den würd ich gern mal sehen." sagt Luna mit unschuldigem Nachdruck in der Stimme.

"Oh." Ich muss schlucken. "Weißt du Kleines, du wirst ihn wahrscheinlich nie sehen."

"Aber ich kann dich doch auch sehen."

 

Na super,  jetzt fängt das Mädchen mit Argumenten an.

 

"Du kannst mich sehen?" Ich bin doch ein wenig erstaunt. "Was siehst du?"

"Na...dich!" antwortet Luna ein wenig entrüstet. Wie können Erwachsene nur immer so unlogische Fragen stellen.

 

Naja, das hätte mir klar sein müssen, dass man vor diesem Kind nichts geheim halten kann. Ich werde ein wenig traurig, weil ich Luna etwas sagen muss.

 

"Luna? Ich muss dir etwas sagen."

"Aha." sagt Luna.

 

Verdammt. Die Kleine ist wie ihr Vater. Und schon wieder muss ich lächeln. Auch wenn sich die Traurigkeit über mich legt wie ein großer grauer Mantel.

 

Luna hört mir zu. Ohne dass ich sie darum bitten muss. Sie möchte es wissen.

 

"Wir sind deine Eltern," beginne ich.

"Ich weiß," bestätigt Luna diese - für sie anscheinend uralte - Information.

"Und wir haben eine Entscheidung getroffen." Ich komme mir vor wie ein Personalchef, der einem langjährigen Mitarbeiter sagen muss, dass er entlassen wird. Oder wie ein Meister der einem angehenden Lehrling sagt, dass er den Ausbildungsplatz nicht erhalten wird.

 

Luna wartet auf weitere Erklärungen. Nun kann ich nicht mehr zurück. Verdammt. Warum muss ich ihr das alleine erklären?

 

"Dein Papa und ich haben beschlossen dass wir dich wieder freilassen."

"Freilassen?" meint Luna. "Bin ich denn ein Gefangener?"

"Ja. Eigentlich schon. Als du herkamst, ist deine Seele eingefangen worden."

"Nein." sagt Luna. "Ich bin freiwillig gekommen."

 

Ich bin erschüttert. Sie ist in die Falle gegangen. Freiwillig. Ob sie wusste was sie erwartet? Hat sie uns vertraut?

 

"Oh," sage ich schwerfällig mit einem Gefühl als ob mir jemand die Kehle zudrückt.

"Du bist freiwillig gekommen? Warum?"

"Oooch," sagt sie mit diesem Ausdruck kindlicher Neugier und mit einer Weisheit, die ich dem Krümel nicht zugetraut hätte, "ich fand es schön hier."

 

"Oh." Mir fehlen die Worte.

 

"Mama?" fragt Luna, "warum weinst du?"

"Es tut mir leid, dass wir dich wieder wegschicken müssen?"

"Ich darf nicht hierbleiben?"

"Nein." sage ich.

"Warum?" fragt Luna erstaunt.

 

"Weißt du kleiner Keks," setze ich an, "ich wäre schon damit einverstanden dich kennen zu lernen. Aber Papa kann das nicht."

"Warum?" fragt Luna weiter. Sie ist wie alle Kinder. Sie möchte lernen.

"Dein Papa hat schreckliche Angst."

"Vor mir?" Luna reißt ungläubig die Augen auf. "Bin ich gefährlich?"

"Nun ja... wenn du es so ausdrücken möchtest... ja... es könnte deinen Papa sehr verletzen."

"Du meinst ich tue ihm weh, wenn ich raus komme?"

"Ja..."

 

"Warum?"

Ich verdrehe die Augen und seufze resigniert. Das könnte noch Jahre so weitergehen. Dass sie Fragen stellt, auf die ich nur traurige Antworten habe. Aber ich denke, sie muss es verstehen. Für manche Dinge gibt es keine guten Antworten und keine befriedigende Lösung.

 

"Hat er mich denn nicht lieb?"

"Doch," sage ich überzeugt,"er hat dich lieb..eigentlich... denn du bist ja ein Teil von ihm. Aber er kann das nicht zeigen."

"Warum?" stellt Luna geduldig ihre klassische Frage.

"Also Kind," nun kehre ich mein Erwachsenen-Ego heraus, "weißt du, ich versuche dir das zu erklären. Und jetzt frag nicht wieder "warum"! tadele ich sie.

 

Luna grinst.

 

"Denke nicht dass dein Papa kein Herz hat, er hat eins und zwar ein großes! Er liebt viele Dinge und Menschen. Sich selber hat er auch lieb. Das alles ist ihm zum Verhängnis geworden. Er hat mal ganz ganz dolle geliebt und vertraut..."

"Ja?" fragt Luna erstaunt.

"Ja," sage ich, "seine Frau. Er hat sie ganz doll lieb gehabt und war glücklich mit ihr, viele Jahre lang. Dann hat sie ihm schrecklich weh getan, ohne es zu wollen."

"Oh," sagt Luna erschrocken. "Das tut mir leid."

 

"Ich weiß," grinse ich. Wir beide wissen viel, denke ich.

 

"Warum hat sie Papa weh getan? Ist sei eine böse Frau oder eine schlimme Hexe?"

"Nein," sage ich. Ich bin verblüfft über Lunas Hang zu Märchenmotiven.

"Sie hat das nicht mit Absicht getan. Manchmal ist das eben so dass sich Gefühle verändern. Sie hatte deinen Papa eines Tages nicht mehr lieb. Sie hat es ihm nicht gesagt."

 

"Wieso?" Luna benutzt mal ein anderes Fragewort, sprachbegabtes Kind, dieser kleine Mondschein.

Ich versuche mein Erstaunen über das Wesen mit den vielen Fragen wieder auf die Konzentration zur Beantwortung einer schwierigen Frage zu lenken.

 

"Also dein Papa hat damals nicht verstanden, warum das alles so ist.. und es hat ihm sehr sehr weh getan. Dann ist was mit seinem Herzen passiert."

"Aha," sagt Luna mal wieder mit diesem Ton der gleichermaßen vollstes Verständnis und völlige Unwissenheit ausdrückt.

"Ja... sein Herz das vorher immer frei geschlagen hat und Licht und Luft und Sonne hatte, das hatte eine schlimme Verletzung...."

 

"Hat es geblutet?" Diese Frage scheint alle Kinder brennend zu interessieren, stelle ich mit hochgezogener Augenbraue fest. Die Ursache von Schmerzen erforschen, und dabei schockiert und zugleich fasziniert hinzustarren.

"Ja...das hat es." Ich lasse mich nicht aus dem Konzept bringen von der Meisterin der Zwischenfragen.

 

"Es hat so sehr geblutet, dass Papa was tun musste um zu überleben...." als ich Luft hole, stellt Luna die nächste Frage.

"Er wäre sonst gestorben?" meint sie ungläubig.

"Nun ja... ich denke schon... wenn man den Kummer nicht bewältigt dann stirbt die Seele." Ich  denke kurz nach und erwarte Lunas "Warum", aber diesmal wartet sie ab.

 

"Er hat den Kummer einfach weggepackt und sein Herz in ein großes, durchsichtiges Glas gesteckt und ´nen Deckel draufgemacht."

"Oh," meint Luna anerkennend, "wie praktisch".

Pragmatisches Kind. Das hat sie von uns, stelle ich mit gewissem Stolz fest.

 

Ich komme nicht dazu weiterzusprechen, weil Luna die Atempause nutzt, um sich die Konsequenzen dieses "praktischen" Schrittes vor Augen zu führen.

 

"Aber wenn man das Herz einsperrt in ein Glas, dann erstickt es doch?"

Woher, verdammt noch mal weiß dieses Kind das alles? Ich fürchte fast, dass es bald keine Erklärungen mehr braucht.

"Ja.. das Herz erstickt... aber es schlägt immer weiter, und weiter und weiter... es lebt, aber es fühlt nicht mehr. Aber ich kann sehen, dass es da ist."

"Ja," sagt Luna verständnisvoll wie eine weise, alte Frau. "Also wenn ich das Glas zerschlage, dann wäre Papas Herz wieder frei?"

"Ja. Aber es gäbe so viele Splitter und es würde wieder bluten. Es braucht ganz viel Zeit bis Papas Herz geheilt ist. Vielleicht heilt es nie wieder."

 

Ich spüre dass Luna beginnt zu verstehen.

 

"Das ist der Grund, warum dein Papa sagt, dass er dich nicht will. Er kann es nicht. Er kann sein Leben nicht für deines geben."

"Oh," meint Luna, "das ist schade..."

 

Sie schweigt. Ich auch.

 

Wir spüren beide die Unausweichlichkeit der Situation. Unsere Herzen schlagen im gleichen Takt.

 

"Mama... kann ich nicht nur bei dir bleiben? Ich meine, wir brauchen Papa doch nicht und haben uns, und dann kann Papa wieder gesund werden."

"Nein, Kleines...," ich merke, wie sich unendliche Traurigkeit und Dunkelheit in meiner Seele ausbreitet.

"Ich kann das nicht alleine... und wenn du später draußen wärst dann würde dir etwas Wichtges fehlen... und das würde dir sehr weh tun und du müsstest dein Herz auch in ein Glas stecken irgendwann..."

"Oh," sagt Luna, "das wäre nicht gut."

"Nein," meine ich,"das wäre schrecklich."

 

"Das Leben tut weh, Mama?" fragt Luna.

"Ja.. das tut es..."

"Ist dein Herz auch in ein Glas gesperrt?" fragt sie schonungslos.

"Ich.. nein.. ich glaube noch nicht... aber ich werde es tun müssen...."

"Weil du sonst auch verblutest?"

"Ja."

 

"Hast du Papa lieb?"

"Mehr als du dir vorstellen kannst, Schätzchen."

"Und deswegen willst du ihm nicht wehtun?"

"Ja... ich will ihm nicht wehtun. Ich will dass sein Herz irgendwann heilt. Wir müssen ihn in Ruhe lassen."

"Ich will Papa auch nicht wehtun," sagt Luna im Brustton der Überzeugung.

 

Verdammt ist dieses Kind vernünftig. Naja, es hat ja auch einen vernünftigen Vater.

 

Ich kann nichts mehr sagen.

 

"Mama," kommt ein zögerliches Stimmen aus meinem Bauch, "weinst du immer noch?"

"Ja," schniefe ich.

"Wird Papa auch weinen?"

 

Scheiße, knallhart die Kleine. Von wem sie das wohl hat?

 

"Ich weiß es nicht," antworte ich resigniert, "Papa will nicht mit mir reden und mich nicht sehen.... aber ich wünsche ihm, dass er weinen kann... denn weißt du, Tränen können heilen und spülen viele Schmerzen fort, und sie sind ein Zeichen dass man sein Herz noch spürt, auch wenn es in dem Glaskäfig sitzt. Mit den Tränen gießt man den Garten der Seele."

 

"Mama.. du musst nicht weinen."

 

Luna hat ihre Entscheidung getroffen.

 

"Ich bin freiwillig gekommen  und ich werde freiwillig wieder gehen."

Ich bin dankbar für Lunas Verständnis und reibe mir die Tränen von den Wangen.

 

"Wird es weh tun?" fragt Luna.

"Nein, kleiner Mondschein... du wirst einfach einschlafen..."

 

"Ich hab euch lieb, dich und Papa."

"Ich weiß, Kleines..."

 

Die Zeit des Abschieds ist gekommen.

 

Luna, ich und ihr Papa umarmen uns ein erstes und letzes Mal - schweigend.

 

Luna schließt die Augen und schläft ein.

 

Es wird ganz still.

 

Auch der Himmel weint und dunkelgraue, schwere Regenwolken schieben sich auf mich zu. Der Sturm treibt ein kleines Blatt in die Luft. Es wirbelt umher, steigt höher und höher. Es scheint von einem hellen Monschein umgeben zu sein. Ich folge ihm mit meinem Blick, bis es nur noch als ein winziges Pünktchen im Wolkengrau zu sehen ist...

 

Nun dauert es nicht mehr lange.

 

© Kerstin Priess 2011