Ein Märchen für Kinder um die 44

Leo und Rana

- ein Märchen für Kinder um die 44

Ich erzähle Euch heute ein Märchen, dass das Leben schrieb. Lauscht und hört die Geschichte von Leo und Rana.

Leo war ein kantiger Typ. Er war schon immer leuchtend Rot gewesen. Er war ein Sechser. Sechs Köpfe oben. Damit gehörte er zu den ganz Großen.

Er war immer irgendwo eingebaut. Mal war er Teil einer römischen Villa mit Balkon, dann wieder flog er als Heck in einem riesigen Hubschrauber mit. Im Laster war er auch schon gewesen und er durfte diesmal ganz vorne mitfahren.

Die Zeiten in der großen, alten Waschmitteltonne, die er in Ruhe zusammen mit den anderen, nicht gebrauchten Steinen verbringen konnte waren rar. Er war einfach ein gesuchter Typ und ständig im Einsatz.

Aber Leo war - obwohl er als wichtiger Baustein in seiner Gemeinschaft galt - eine eigenwillige Natur. Er grenzte sich gerne ab. Leo ging manchmal eigene Wege. Einmal schlidderte er viel zu schnell unter das große Bett. Dort robbte er durch dicke Staubflocken, sah einen riesigen Weberknecht und fand ein paar tote, auf dem Rücken liegende Fliegen. Er genoss diese Zeit im Niemandsland.

Einen Tag später passierte es dann. Ein großer Staubsauger fraß ihn und er wurde mit Karacho angesaugt, durch die enge Düse gezogen und krachte polternd und scheppernd durch den Schlauch um dann in dem mehr oder weniger appetitlichen Durcheinander von Flusenkissen, einer grauen weichen Masse - höchstwahrscheinlich Milbenkot - Katzenhaaren und Papierschnippseln zu landen. Er überstand dieses Abenteuer ohne Kratzer und unbeschadet, denn er war ein harter Knochen. Ein paar Hände schnitten schließlich den Beutel auf, fischten ihn heraus und warfen ihn zurück in die große Tonne.

Ein anderes Mal stürzte er sich in eine dunkle, warme Sofaritze und versteckte sich darin für viel Monate. Er lebte dort als Eremit. Er war aber dennoch froh als er endlich die Enge der rot-grün-goldenen, großgemusterten Polster verlassen konnte. Er piekste die dicke Tante Erika in den Hintern und die fischte ihn heraus, wohl froh dass es nur Leo war und kein sechs- oder achtbeininges Insekt.

Leo war schon viel herumgekommen. Er war sogar jahrelang im Ausland - in Spanien. Aber schließlich kehrte er in sein Heimat zurück um dort weiter zu bauen.

Rana war eine insgesamt runde Persönlichkeit. Sie war von leuchtendem Lindgrün und ihr Plastik war weich und anschmiegsam. Sie hatte regelmäßige Kerben rundherum und ließ sich weich mit den anderen ihrer Art zusammenstecken. In der Mitte hatte sie ein kleines Loch von dem sie sich immer fragte wozu es wohl gut wäre.

Rana fand sich mal zu dünn, dann mal wieder zu dick. Je nachdem welche ihrer Seiten sie gerade im Spiegel betrachtete.

Rana war ein beliebtes Mitglied in der Truppe. Am meisten liebte sie es in der Krone auf dem Kopf des kleinen Mädchens zu sitzen. Dort war sie oben, der dritte Zacken von links.

Sie kam auf diese Weise viel herum. Sie sah das große Wohnzimmer in dem gerade die Nachrichten liefen, den schwarz-weißen, flimmernden Mann der dort mit ernster Miene die Neuigkeiten der Welt verkündete, sie wurde durch die duftende und dampfende Küchenluft getragen, damals als es nach Hawai-Toast roch, sie genoss die Wärme im heißen Badewasser und bekam auch eine Wäsche mit Apfelshampoo.  Einmal fiel sie ins Badewasser und wäre fast vom gurgelnden Ausfluss verschluckt worden. Aber die Hand des kleinen Mädchens fischte gerade noch kurz vorher aus dem reißenden Sog.

Ihr größtes Abenteuer war jedoch der Besuch im Garten. Dort wurde sie von Bienen umschwirrt und konnte sich nicht sattsehen an dem freundlichen Grün und Blau das sie umgab. Hier fühlte sie sich mit allem verbunden. Sie war schließlich auch grün.

Aber Rana hatte auch schon Schlimmes erlebt. Ihre Eltern waren auf einer heißen Herdplatte umgekommen, einfach dahin geschmolzen. Über die näheren Umstände  dieses Unglücks erfuhr Rana nichts, nur dass man sie wohl mit einem Schaber und untrennbar miteinander verbacken von der schwarzen Fläche gekratzt hatte.

Ihre beste Freundin (sie war weiß) wurde entführt, als das kleine Mädchen einmal Besuch von der Kusine hatte. Sie wurde einfach in die Tasche einer karierten Hose gesteckt und Rana sah sie nie wieder.

Als Rana noch sehr jung war hat man ihr übel mitgepielt. Sie wurde damals ohne viel Federlesen in einen Kindermund geschoben, ein Mund der schon alle Milchzähne hatte. Dann wurde sie gebissen. Die Abdrücke sah man noch bis heute. Sie verliehen ihr ein unverwechselbares Aussehen. Aber sie hatte Glück im Unglück. Ihre Steckfähigkeit blieb unbeeinträchtigt.

Eines Tages begegneten sich Leo und Rana. Sie landeten gemeinsam in einem großen, ausrangierten Quelle-Karton und wurden auf den Dachboden geschafft. Als das große Gerüttel und Geschüttel endlich zu Ende war kamen sie nebeneinander zum Liegen.

Leo sah Rana. Rana sah Leo. Es war Liebe auf den ersten Blick.

Eigentlich auf den zweiten.

Denn Rana hatte Leo schon mal getroffen und mit ihm geplaudert. Sie fand ihn damals schon nett. Aber ihre Welt war damals noch in Ordnung und sie musste niemanden beeindrucken und sagte sich insgeheim - obwohl sie ihn sofort mochte - dass sie sich schließlich nicht schon wieder verlieben wollte. Also sagte Rana stets das, was sie dachte, ohne daran zu denken, was Leo davon hielt.

Leos Welt war damals gerade wieder einigermaßen in Ordnung gewesen. Er hatte sich - nachdem ihn sein langjährig angetrautes Klötzchen wegen eines anderen Bausteins, der auch noch sein Freund gewesen war, verlassen hatte - gerade wieder von dem ersten Schock erholt und genoss sein Leben als Single-Stein.

Sie trafen sich als Rana mit einem Freund und einer Freundin zusammen saßen um den Freund zu trösten. Seine Freundin hatte ihn just in diesem Moment verlassen und Rana und ihre Freundin befanden sich auf der Trost-Mission für ihren verzweifelten Freund.

Leo kam dazu und wurde Mitglied in der Lebensabschnitt-Beratungstruppe.

Leo fand Rana nett und Rana fand Leo nett. Spät in der Nacht musste Rana nach Hause. Am nächsten Tag hatte sie einen wichtigen Steck-Auftrag. Leo sah Rana traurig hinterher als sie sich auf den Weg machte.

Nun sahen sie sich zum zweiten Mal.

Rana war fasziniert von Leos rotem Glanz und seinen Ecken und Kanten.

Leo fand Ranas Lindgrün bezaubernd und ihre schlanken Rundungen mit den regelmäßigen Kerben überaus attraktiv. Die kleinen Bisspuren fand er sehr süß.

So lagen sie eine Weile still nebeneinander.

Nach einer Weile sagte Leo: "Lebst du noch?"

Rana meinte: "Ich glaube schon."

Sie grinsten sich an.

Dann mussten sie lachen.

Leo begann zu erzählen. Vom Bett, vom Staubsauger und der Sofaritze.

Rana erzählte Leo alles über die Erlebnisse im Badewasser, den schrecklichen Schmelzunfall und den Garten.

Leo fand Rana interessant. Rana fand Leo interessant.

Sie lagen nun schon lange nebeneinander auf dem kalten Dachboden. Sie hatten so viel miteinander geplaudert, dass sie die Kälte erst gar nicht spürten. schließlich begann Rana zu frieren und zu zittern, genau wie Leo.

Leo fragte: "Frierst du?"

Rana meinte: "Nein, mir ist nur kalt."

Leo ging los und holte ein Stück Ziegenfell, das - aus welchen Gründen auch immer mit im Karton gelandet war - und legte es über sie beide.

Unter dem Fell wurde es langsam wärmer und Leo spürte Ranas Seite an sich und Ran spürte Leos Seite an sich.

Leo erzählte Rana von seinen Träumen. Rana erzählte Leo von von ihren Träumen.

Leo legte den Arm und Rana.

Rana dachte: "Oh. Aha."

Irgendwann mussten sie sich bewegen. Sie folgten ein paar anderen Bausteinen durch Nacht und Kälte. Die hatten Rana und Leo angeboten in dieser kalten Nacht in ihrer gemütlichen, gepolsterten Stoffkiste zu übernachten.

Ran nahm Leos Hand.

Leo ließ sie nicht los.

So marschierten sie zitternd durch die sternenklare Nacht. Die Sterne leuchteten zum Dachfenster herein. Rana blickte nach oben und fragte sich wo ihr Weg hinführen würde. Leo schwieg.

Sie hatten Glück und mussten nicht den ganzen Weg laufen. Ein großes, altes Spielzeug-Taxi mit abgeschabtem Lack,  dreieinhalb Rädern und noch genug Energie in den Batterien fuhr sie sicher durch das Chaos des Dachbodens.

Als sie endlich im Taxi saßen waren ihre Hände eiskalt.

Rana gab Leo ein Stückchen Katzenfell, das  - aus welchen Gründen auch immer - seinen Weg in Ranas Besitz gefunden hatte. Sie legte es über Leos Hände zum Wärmen. Ihre eigenen Hände steckte sie an eine warme Stelle ihres Körpers.

Nach einer Weile nahm Leo Ranas Hand. Rana hielt sie fest.

Ihre Hände waren wieder warm.

Leo streichelte Ranas Finger. Rana streichelte Leos Finger.

Schließlich lagen sie bequem nebeneinander in der Gästekiste. Leo hatte sich einen grünen und einen geblümten Stofffetzen übergezogen und Rana war bedeckt von einem glänzenden fliederfarbenen Seidenstück.

Leo sagte: "Mach mal den Globus an."

Rana knipste das große Licht aus und das kleine Licht in der alten Plastik-Erdkugel an. Die kleine Gästekiste wurde in magisches blaues Licht getaucht.

Leo war müde und Rana merkte, dass er sich kaum noch wachhalten konnte.

Sie sagte:" Sag Bescheid, wenn ich das Licht ausmachen soll."

Leo meinte: "Wie du willst."

Rana antwortete: "Das war nicht die Antwort die ich hören wollte."

Leo sagte:"Dann mach aus."

Rana kipste das Licht aus und im selben Moment begann Leo laut zu schnarchen.

Rana lächelte.

Sie lag die ganze Nacht wach um Leos Konzert anzuhören. Am liebsten wäre sie zu ihm unter seinen geblümten Stofffetzen gekrabbelt, denn ihr war immer noch kalt und es fühlte sich darüberhinaus an, als ob Leo magnetisch wäre. Sie konnte die Anziehung spüren. Aber sie hatte nicht den Mut. Schließlich sahen sie sich erst zum zweiten Mal.

Was aus den beiden wurde?

Nun ja, wenn sie nicht auf der heißen Herdplatte lagen, leben sie noch heute. Vielleicht begegnet Ihr ihnen einmal auf dem Dachboden und erzählen ihre Geschichte nur für Euch.

© Kerstin Priess 2011